Meinung | Gipfel-Chaos: Europa kann nur von seinen Bürgern gerettet werden
Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist alles in allem eine Erzählung über Frieden, Freiheit und Versöhnung. So haben wir es gelernt und immer wieder erfahren, und trotz aller historischen Ungleichzeitigkeiten und politischen Brüche ist diese These auch richtig.
Demokratie und Menschenrechte haben erst in den Siebziger Jahren die letzten Despoten und Diktatoren in Westeuropa verdrängt, um sich dann Ende der Achtziger Jahre auch in Mittel- und Osteuropa durchsetzen zu können. Dennoch hat dieses Narrativ in den vergangenen Jahren an Kraft verloren. Manche sehen Europa zwar nicht am Ende seiner Geschichte – aber doch am Ende einer insgesamt erfreulichen Erzählung, in der zum Schluss alles gut ausgeht.
Mutmaßungen über eine verborgene Agenda
Daran ist nicht nur die unverantwortliche Schuldenpolitik mancher Staaten Schuld. Je mehr Nationen sich in der Europäischen Union zusammen fanden, desto mehr wuchs bei den Bürgern der inzwischen 27 Mitgliedstaaten ein unbestimmtes Gefühl des Misstrauens. Und zwar nicht nur gegen die gern und viel gescholtene Brüsseler Bürokratie, die übrigens kein Eigenleben führt, sondern am Tropf ihrer Mitglieder hängt.
Auch das gegenseitige Misstrauen der Europäer ist nicht verschwunden. Während die Deutschen immer mehr glauben, in Südeuropa würde Germanias Pensionskasse verspielt, wird uns nicht erst seit der Euro-Krise von manchen Nachbarn unterstellt, wir besäßen in Wahrheit eine verborgene Agenda, um den Kontinent politisch und wirtschaftlich zu kujonieren. Mit „mehr Feuerkraft" will die EU den Euro-Rettungsschirm ausgestattet sehen, um eine Ausbreitung der Euro-Krise zu vermeiden. Doch weitere Garantien wollen Deutschland und die anderen Euro-Länder nicht mehr bereitstellen. Die Lösung soll ein finanztechnischer „Hebel" bringen. Die wichtigsten Fragen: Wieviel Geld kann der Rettungsfonds einsetzen?Der Bundestag und die Parlamente in den anderen Euro-Ländern haben gerade erst einer Ausweitung des Fonds zugestimmt. Damit kann der sogenannte EFSF 440 Milliarden Euro im Kampf gegen die Schuldenkrise einsetzen anstatt wie zuvor 250 Milliarden Euro. Warum soll die Schlagkraft des Fonds erhöht werden?In den letzten Wochen ist die Befürchtung gewachsen, dass die Mittel in dem Fonds nicht ausreichen, wenn sich die Krise weiter ausweitet. Diese Sorge betrifft etwa Rettungseinsätze für Italien und Spanien, Kapitalhilfen für die europäischen Banken oder neue Hilfszahlungen an Portugal und Irland. Weshalb werden die Garantien nicht einfach erhöht?Das gilt in vielen Euro-Ländern innenpolitisch als nicht mehr durchsetzbar. Außerdem soll vermieden werden, dass etwa Frankreich bei der Übernahme weiterer Risiken von den Ratingagenturen nicht mehr als Land mit stabiler Finanzlage angesehen wird und seine „AAA"-Topbewertung verliert – und sich so nur noch Geld zu höheren Zinsen leihen könnte. Was ist nun der Plan?Durch einen finanztechnischen Hebel soll die finanzielle Schlagkraft des Rettungsfonds gestärkt werden, ohne weitere Garantien bereitzustellen. Mit anderen Worten: Die vorhandene Summe soll mehr Wirkung erzielen. Wie soll das geschafft werden?Diskutiert wird, den Fonds wie eine Teilkaskoversicherung zu nutzen. Der EFSF soll seine Mittel nicht unbedingt selbst zum Kauf von Staatsanleihen einsetzen und so zur Stabilität in der Euro-Zone beitragen. Vielmehr sollen Investoren dazu mit dem Angebot ermutigt werden, dass der Fonds im Falle einer Staatspleite 20 bis 30 Prozent des Verlusts übernimmt. Die Hoffnung ist, dass die Investoren durch diese Absicherung nicht vor dem Kauf von Staatsanleihen zurückschrecken und keine weiteren Länder in die Lage wie zuvor etwa Griechenland kommen, in der sie sich einfach kein Geld mehr leihen können – und Hilfe aus dem Rettungsfonds brauchen. Welche Wirkung würde der Fonds so erzielen?Das hängt von der genauen Lösung ab. In Brüssel gibt es zunächst Rechnungen, wonach die Wirkung des Fonds durch die Versicherungslösung etwa um das Fünffache auf bis zu 2,5 Billionen Euro erhöht werden könnte. Wie ein EU-Diplomat sagte, wird die Summe aber letztendlich zwischen einer und zwei Billionen Euro liegen. Gibt es Kritik an den Plänen?Ja. Durch einen Hebeltrick werde der Bundestag umgangen, der gerade erst einer Ausweitung des Fonds zugestimmt habe, kritisiert der Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen. Zudem vervielfache sich das von Deutschland übernommene Risiko. Die britische „Financial Times" hält den Versicherungshebel schlichtweg für eine weitere „schlechte Idee", die im Ernstfall „beklagenswert unzureichend" sei.
Diesen Knäuel gegenseitiger Vorwürfe wird man auf dem Brüsseler Gipfel zur Schuldenkrise nicht durchtrennen können. Man muss sich generell fragen, ob die Krise Europas allein durch neue bilaterale Verabredungen und Verordnungen zu lösen sein wird. Das muss freilich geschehen, doch das Problem liegt tiefer. In allen Ländern des Kontinents, nicht nur in der Euro-Zone, muss endlich eine Debatte darüber beginnen, wie man das Projekt Europa vom Kopf auf die Füße stellen kann. Das Europa von morgen kann nur ein Europa seiner Bürger sein, die trotz aller unterschiedlichen Sprachen, kultureller Prägungen und historischer Erfahrungen ins Gespräch über ihre gemeinsame Zukunft kommen. Was wollen wir voneinander? Was müssen wir übereinander wissen? Und warum bin ich Europäer?
Die politische Elite Europas scheint am Ende ihrer Gewissheiten, das zeigt nicht zuletzt das Desaster des deutsch-französischen Gipfels. Europa kann nur von seinen Bürgern gerettet werden. In Polen, wo gerade eine vitale, europafreundliche Regierung im Amt bestätigt worden ist, bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, wie das geht.
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Kategorie: Meine Artikel | Hinzugefügt von: semenivanov88 (21.10.2011)
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